Dr. Gotthilf Schenkel – Pfarrer, Sozialist und Nazigegner

Veröffentlicht am 05.02.2017 in Gemeindenachrichten

Eine Zeitzeugin, Lisbeth Wurst, ehemalige Lehrerin, engagiert in der evangelischen Kirchengemeinde und in der SPD in Stuttgart-Zuffenhausen, erinnert gern an Men-schen, die den Nazis kritisch gegenüberstanden.

 

Zu ihnen zählt auch der frühere Pfarrer an der Pauluskirche Zuffenhausen, Dr. Gotthilf Schenkel, der ihrer Familie nahestand. Als Sohn eines Missionars in Indien 1889 geboren, besuchte er das Eberhard-Ludwigs- und das Karls-Gymnasium Stuttgart und studierte in Tübingen Theologie. Im Ersten Weltkrieg 1914-18 leistete er Kriegsdienst, von dem er sagte, dass er das Gefühl hatte, „als wäre der Teufel los auf Erden“1. Er kam 1918 zunächst als Vikar, dann als Stadtpfarrer nach Zuffenhausen und promovierte 1926 zum Doktor der Theologie in Tübingen.

Als die Zuffenhäuser DDP (Deutsche Demokratische Partei), deren Mitglied er zunächst war, 1928 bei der Gemeinderatswahl eine Listenverbindung mit der NSDAP einging, trat er „empört aus der Partei aus" und der SPD2 sowie dem 1926 gegründeten „Bund der religiösen Sozialisten“ bei und wurde dessen Vorsitzender in Württemberg. Dazu gehörte Überzeugung und Mut, denn in dieser Zeit standen sich SPD und Kirchen eher feindselig gegen-über. Er betätigte sich als Schriftleiter der Wochenschrift „Der religiöse Sozialist, Sonntags-blatt des arbeitenden Volkes". Sie wurde unter einem Dach mit der sozialdemokratischen Tageszeitung „Schwäbische Tagwacht“ in der Hauptstädter Straße 92 und 96 in Stuttgart herausgegeben, wo auch die SPD-Zentrale bis 1925 ihren Sitz hatte. 1932 kandidierte er – erfolglos – für den Württembergischen Landtag.

Schenkel machte sich die Interessen der Arbeiterschaft zu Eigen, stellte sich auf ihre Seite und unterstützte sie bei Streiks.3 Als Vikar und junger Pfarrer setzte sich Schenkel für die Heimstätten- und Siedlungsbewegung ein, so als Geschäftsführer des Stuttgarter Bau- und Heimstättenvereins.4 Er vertrat radikale kapitalismuskritische („grauenhafte Sinnwidrigkeit des Mammonismus“), egalitäre und pazifistische Positionen. Die Kirche solle das soziale Gewissen des Volkes sein: „Im sozialistischen Proletariat ist bei vielen das Bewusstsein vorhanden, dass die erstrebten Ziele des Sozialismus, nämlich Planwirtschaft, Gerechtigkeit, Brüderlichkeit und Frieden im Grunde eine Verwirklichung der Grundgedanken des Christen-tums bedeuten würden“.5

1931 begegnete er in der Schweiz Mahatma Gandhi, dessen Menschlichkeit und Gerechtigkeitssinn ihn tief beeindruckte. 1949 verfasste eine Biografie über ihn.

Früher als anderen war ihm die Gefahr des Nationalsozialismus bewusst, vor dem er unermüdlich warnte. 1932 schrieb er: „Das Symbol der neuen Bewegung ist das falsche Kreuz.“ Im April dieses Jahres warnte Schenkel mit Nachdruck vor einer Judenverfolgung. Christentum und Faschismus waren für ihn und die Religiösen Sozialisten unvereinbar. Zum letzten Mal griff er die Nazis an bei einer „Massenkundgebung zum Kampf für den Sozialismus“, welche die SPD vor der Reichstagwahl am 5. März 1933 in der Stuttgarter Stadthalle am 24. Februar 1933 abhielt. Unter „stürmischem Beifall“ sagte er: „Nicht das Dritte Reich des modernen Messianismus hat die Zukunft, sondern das Reich der Gerechtigkeit, der Menschenliebe und des Friedens. Wer sich zu diesem Reich (…) bekennt, kann in leichter Abänderung des Lutherzitates ruhig sagen: Und wenn die Welt voll Feinden wär, dies Reich muss uns doch bleiben.“ Die „Schwäbische Tagwacht“ zitierte Schenkel mit den Worten: „Und wenn die Welt voll Nazi wär …“.6

In der vorletzten Nummer des kurz danach verbotenen „Sonntagsblatts“ vom 5. März 1933 war zu lesen: „Die Angst vor dem Bolschewismus treibt die Kirche der Reaktion in die Arme. Damit stürzt die Brücke ein, die Arbeiterschaft und Kirche das Zueinander möglich machen könnte. Sie verkauft ihre Freiheit um das Linsengericht einer höchst fragwürdigen Sicherheit.“ Schenkel hat hier wohl die obrigkeitsorientierte, angepasste Kirchenführung als auch die „Deutschen Christen“ im Auge, welche die Evangelische Kirche in die Abhängigkeit vom NS drängten. Gotthilf Schenkel versuchte bis zuletzt Widerstand gegen die sich bereits ver-festigende NS-Herrschaft zu leisten. Man kann sich heute kaum mehr vorstellen, welcher Mut dazu gehörte, eine solche kritische Überzeugung öffentlich zu vertreten, besonders als die Nazis immer rücksichtsloser gegen die Opposition vorgingen. Es blieb eine Minderheit evangelischer Christen, die zu einer ähnlichen Haltung des Widerstands gelangte. So war beispielsweise Dietrich Bonhoeffer ein profilierter Repräsentant der NS-kritischen „Bekennenden Kirche“. Er bezahlte dafür mit seinem Leben im KZ Buchenwald.

Nun wurde der Christ und Sozialist Schenkel wegen seines Einsatzes in Wort und Schrift massiv verfolgt. Dass der Druck von seiner eigenen Gemeinde ausging, ist für uns heute kaum nachvollziehbar. Man wollte den eigenen Pfarrer loswerden. Zunächst beschloss der Kirchengemeinderat Zuffenhausen am 15. März 1933 Schenkel „nahezulegen, dass er mit sofortiger Wirkung beim Oberkirchenrat ein 4-wöchiges Urlaubsgesuch … einreiche“.7 Am 22. März 1933 wurde er von der SA verhaftet und ins Stuttgarter Polizeipräsidium (bekannt als „Hotel Silber“, das 2017/18 als Erinnerungsort eingerichtet wird.)8 eingeliefert. Auf Intervention des Landebischofs T. Wurm wurde er wieder entlassen. Dennoch wurde er eine Zeitlang im KZ Heuberg inhaftiert. Schenkel beantragte Urlaub, der gewährt und mehrfach verlängert wurde.

Die Stimmung war aufgeheizt. Der Zutritt zu „seiner“ Pauluskirche in Zuffenhausen wurde ihm mit der Androhung, dass 200 SA-Männer aufmarschieren würden, verwehrt. Am 12. April 1933 lehnte der Kirchengemeinderat seine Rückkehr nach Zuffenhausen ab, da „eine größere Zahl“ von Gemeindemitgliedern seinetwegen mit ihrem Austritt aus der Landeskirche gedroht hätten. Er bat den Oberkirchenrat „um Abhilfe“, indem ihm ein anderes Tätigkeitsfeld zugewiesen werden solle. Unter dem Druck der NSDAP, der (nationalsozialistischen) „Deutschen Christen", die einen Teil der Gemeinde beeinflussten, und auf Drängen des Ludwigsburger Dekans wurde er vom Oberkirchenrat im April 1933 seiner hiesigen Pfarrstelle enthoben.9 Die Nazis hatten dafür gesorgt, dass Mut und Solidarität der Angst und Anfeindung unterlagen.

Gotthilf Schenkel war der erste Pfarrer in Württemberg, der von der NSDAP und der Kirchenleitung aus dem Amt vertrieben und in den Ruhestand versetzt wurde. Der Kirchenleitung muss man zugutehalten, dass sie versuchte, ihn gewissermaßen aus der Schusslinie zu nehmen und zu schützen, indem sie ihm 1934 die vakante Pfarrei im Dorf Unterdeufstetten im Dekanat Crailsheim als Pfarrverweser zuwies. Weil die neuen Herrscher mit dieser Maßnahme nicht einverstanden waren, wandte sich Reichsstatthalter Murr am 22. August 1933 in einem Brief an den Oberkirchenrat, „die Wiederverwendung des Pfarrers Schenkel“ zu prüfen.10 Der Oberkirchenrat ließ sich nicht beirren und stand zu seiner Entscheidung. Während die Hohenloher Landbevölkerung zu Schenkel hielt, sah er sich wiederholten Angriffen und Belästigungen durch Nazis ausgesetzt, obwohl er sich gezwungenermaßen politisch völlig zurücknahm.11

Der kaltgestellte Schenkel überlebte die NS-Diktatur. Ab 1947 erhielt er die Pfarrstelle in Oberesslingen und wurde Lehrer für Individual- und Sozialethik an der Technischen Hochschule Stuttgart.

Er begann wieder in der SPD aktiv zu werden, so als Gemeinerat der Stadt Esslingen und im Kreistag. 1951-1952 bekleidete er in der württemberg-badischen Regierung von Reinhold Maier das Amt des „Kultministers“, wie es damals hieß. Er vertrat die SPD auch in der Verfassungsgebenden Landesversammlung und ist somit einer der Väter der Landesverfassung. Das Ministeramt hatte er auch nach der Volksabstimmung über die Vereinigung der drei Länder des Südwestens in der Regierung Maier bis 1953 inne. Gotthilf Schenkel war also der erste Kultusminister von Baden-Württemberg – und einer, der für Schulreformen warb. 1952 setzte er sich in einer Rede bei der GEW in Freiburg für die Einführung der (christlichen) Gemeinschaftsschule nach dem Vorbild der badischen Simultanschule auch im Landesteil Württemberg ein, wofür er „stürmischen Beifall“ erntete.12 Die Umsetzung seiner Forderung erlebte er allerdings nicht mehr. Erst 1967 gab die Katholische Kirche ihr Festhalten an der Konfessionsschule auf. Seit 1952 errang Gotthilf Schenkel mehrfach das Direkt-mandat als Landtagsabgeordneter des Wahlkreises Esslingen, das er bis zu seinem Tod 1960 innehatte. Ab 1956 war er Mitglied des Kulturpolitischen Ausschusses des Landtags. Er wurde auch wieder zum Landesvorsitzenden des Bundes religiöser Sozialisten Württemberg gewählt.

Zu seinem 70. Geburtstag sollte ihm für seine Verdienste das Bundesverdienstkreuz überreicht werden. Er lehnte die Entgegennahme mit der Begründung ab, dass „der Herr Bundeskanzler (Konrad Adenauer) nicht nur einzelne Sozialdemokraten ungerechtfertigterweise verdächtigt und verleumdet …, sondern auch meine Partei als solche besonders jeweils vor den Wahlen als staatsgefährdend bezeichnet“ hat. „Was bedeutet eine Ehrung, solange meine Partei vom Chef der Bundesregierung diffamiert wird.“13 Derartige Methoden, den politischen Konkurrenten herunterzumachen und zu diskriminieren, sind also nicht neu. Deshalb ist heute umso mehr unsere Aufmerksamkeit und entschiedene Stellungnahme gefordert, wenn wieder zunehmend die rote Linie dessen überschritten wird, was der Demokratie und einer zivilisierten Gesellschaft in der politischen Auseinandersetzung zuzumuten ist. Gotthilf Schenkel, ein außergewöhnlicher, feinsinniger und unabhängig denkender Mensch, verfasste mehrere Bücher und Aufsätze zu theologischen und politischen Themen, darunter 1946 ein Buch mit dem Titel „Kirche, Sozialismus, Demokratie". Seine Kritik würde heute dem Marktradikalismus und dem neu erwachenden Nationalismus und Rechtspopu-lismus gelten. Ein Engagement für mehr Gerechtigkeit, Solidarität und Frieden sind heute so notwendig wie vor 80 Jahren. Die Werte, Normen und politischen Ziele, die er für sich in An-spruch nahm, haben nichts von ihrer Legitimität verloren, denn sie sind immer noch nicht in der Weise umgesetzt, wie er das gewünscht hätte. Sage niemand, es mangele uns heute an Vorbildern. Eine Persönlichkeit wie Gotthilf Schenkel ist eines. Am 12. März 2015 wurde von der Esslinger Freimaurerloge „Zur Katharinenlinde“ zum ersten Mal der „Gotthilf-Schenkel-Preis für Mitmenschlichkeit“ verliehen.14

Zur Erinnerung an den Antifaschisten, Pfarrer und Politiker Gotthilf Schenkel wurde eine Straße im neuen Wohngebiet „Im Raiser" in Stuttgart-Zuffenhausen nach ihm benannt15. Ihm hätte bestimmt gefallen, dass dieses Quartier genau da gebaut wurde, wo vorher eine Kaserne stand. Man könnte sich auch sehr gut vorstellen, dass eine Schule seinen Namen trägt.

Hans-Georg Kerler Stuttgart-Zuffenhausen, 12.1.2017

1 Schwäbische Tagwacht, 25. 2. 1933.
2 Gühring, Albrecht: Zuffenhausen – Dorf, Stadt, Stadtbezirk, Zuffenhausen 2004, S. 404.
3 Süddeutsche. Zeitung, 22. März 1933.
4 https://www2.landesarchiv-bw.de, 02.07.2016.
5 http://de.evangelischer –widerstand.de,12.01.2017.
6 Hansjörg Kammerer: Amtsenthoben. Metzingen 2004, S.64,Schwäbische Tagwacht, a.a.O., http://de.evangelischer –widerstand.de,12.01.2017.
7 http://de.evangelischer –widerstand.de,12.01.2017.
8 Stuttgarter Amtsblatt Nr. 1/2 vom 12.01.2017.
9 Stuttgarter Zeitung, 12.11.2004, Hansjörg Kammerer: a.a.O., S. 65, http://de.evangelischer –widerstand.de(Protokoll der Kirchengemeinderatssitzung am 12.4.1933),12.01.2017.
10 http://de.evangelischer –widerstand.de,12.01.2017.
11 https://www2.landesarchiv-bw.de, 02.07.2016. 12 Das Volk vom 11.11.1952.
13 Vorwärts, 31.7.1952.
14 www.freimaurer-esslingen.de, 02.07.2016.
15 125 Jahre SPD Zuffenhausen 1889-2014, Zuffenhausen 2014, S. 65f., 85f

 

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