Bevölkerungsprognosen und daraus resultierende Erkenntnisse

Veröffentlicht am 04.01.1990 in Beschlüsse

Rede von Regionalrätin Andrea Schwarz in der Vollversammlung des Regionalparlaments am 19. Juli 2006 zur Regionalplanfortschreibung

„Bevölkerungsprognosen und daraus resultierende Erkenntnisse“

Vor knapp 2 Jahren im Oktober 2004 haben wir an dieser Stelle mit den Vorbereitungen zur Regionalplanfortschreibung begonnen. Damals gingen wir von den Bevölkerungsprognosen des statistischen Landesamtes aus und stellten uns darauf ein, bis 2020 ca. 4% Wachstum zu haben – allerdings nur durch ordentliche Zuwanderungsquoten. Diese Zahlen haben uns bereits Kopfzerbrechen gemacht: ¼% Wachstum pro Jahr - das ist praktisch Stagnation!

Seit einigen Wochen liegt nun eine Gegenprognose des Pestel-Institus vor, die verkürzt aussagt: Ihr werdet nicht um 4% wachsen, sondern um über 1% schrumpfen.... seitdem müssten wir alle unter schlimmen Migräneanfällen leiden. Das sind runde 130.000 Einwohner, um die sich die beiden Prognosen unterscheiden, obwohl die natürliche Bevölkerungsentwicklung sich in etwa deckt. Beim Prognosezeitraum bis 2025 - also 5 Jahre länger - geht die Schere noch deutlich weiter auseinander....

Hm, was ist da passiert? Wie können so professionelle Stellen dermaßen auseinander liegen?

Zum einen liegt das daran, dass Pestel neuere Zahlen als Ausgangsbasis hatte. Zum anderen versucht das stat. Landesamt die Entwicklung der Zuwanderung in den letzten Jahren fortzuschreiben, wohingegen Pestel davon ausgeht, dass Zuwanderung nur aufgrund von unbesetzten Arbeitsplätzen erfolgen wird – und da sollen wir froh sein, wenn wir die Zahl der Arbeitsplätze halten können, sagt Pestel in Übereinstimmung mit der Verwaltung.

Jetzt könnte man ja auf den Gedanken kommen, dass wenn wir tatsächlich weniger werden, die Arbeitsplatzzahlen aber gleich bleiben, dadurch doch Zuwanderung ausgelöst werden müsste. Weit gefehlt! Denn, so sagt die Vorlage, zunächst werden wir alle später in Rente gehen. Und außerdem werden die Frauen zukünftig stärker erwerbstätig sein, wegen einer verbesserten Vereinbarkeit von Familie und Beruf und durch Änderungen im Unterhaltsrecht bei geschiedenen Frauen – so ist auf Nachfrage zu hören.

Wir könnten also den Bedarf an Arbeitskräften bis ca. 2015 aus dem Bestand heraus decken, was annähernd einer Vollbeschäftigung gleich käme. Danach bräuchten wir eine so starke Zuwanderung, um den Arbeitskräftebedarf zu decken, dass dies nicht mehr realistisch erscheint und daher die Erwerbspersonenzahl sinken muss.

Soweit die Ergebnisse des Pestel-Instituts, die in der Vorlage als realistischer als die Annahmen des StaLa angesehen werden und vorsorglich den Namen „Gleichgewichts-Variante“ erhalten.

Was aber, wenn sich die Menschen nicht wie Ameisen hin- und herrechnen lassen? Wenn z.B. ein Teil der nachgefragten Arbeitskräfte nicht durch ältere Mitarbeiter oder Frauen ersetzt werden kann (ich denke z.B. an schwere körperliche Arbeit)? Was aber, wenn eine annähernde Vollbeschäftigung bei uns Zuwanderung aus Teilen Deutschlands oder der EU auslöst, wo die Arbeitslosenzahlen bei ca. 20% liegen? Was aber, wenn das Angebot an Ganztagesplätzen (auch schon für 1jährige) mangels kommunaler Finanzmasse nicht steigt? Gleichzeitig die Scheidungsrate zurückgeht und die Frage des Unterhalts gar nicht mehr die Rolle spielt – die Frauenerwerbsquote also nicht um die geplanten 10% steigt? Was aber – ganz ketzerisch- , wenn wir – ähnlich wie die Region München (an dieser Stelle herzlichen Dank an die FDP-Fraktion für Ihren Antrag!) – bis 2015 von 80.000 Erwerbstätigen mehr ausgehen? Dann sind wir ruckzuck wieder bei deutlichen Zuwächsen, denn die Menschen, die aufgrund von Arbeitsplätzen ihren Wohnort wechseln kommen meist nicht allein, sondern mit Familie.

Das ist keine Kritik an der Pestel-Studie. Diese stellt Wenn-Dann-Beziehungen auf und die errechneten Zahlen sind sicherlich richtig – nur: sind es auch die Annahmen? Und dieses Fragezeichen ist sehr groß. Denn was sind die Auswirkungen der Studie?

Zum einen haben wir ein sehr großes Problem in der Abstimmung mit den anderen Regionen, die – wozu haben wir sie denn? - selbstverständlich die positiven Prognosen des StaLa heranziehen. So geht die Region HN-Franken in ihrer neuen Regionalplanfortschreibung davon aus, bis 2020 um 4,2% zu wachsen. Entsprechend dürfen die Kommunen am Rand zu unserer Region (allesamt entweder im Verdichtungsraum, an einer Entwicklungsachse oder als Bereiche mit verstärkter Siedlungstätigkeit ausgewiesen) neue Flächen ausweisen, was wir unseren Kommunen verwehren müssten. Das hat zur Folge, dass tatsächlich mehr Menschen dorthin ziehen, entweder weil die Baulandpreise günstiger sind oder weil bei uns schlichtweg keine Bauplätze zur Verfügung stehen.

Zum anderen werden es unsere Firmen schwer haben, benötigte Fachkräfte zu finden, zumal von außerhalb der Region. Denn einer der wichtigsten Faktoren der neuesten IHK-Studie zu Unternehmensverlagerungen war die Verfügbarkeit bzw. der Preis von Wohnraum, leider mit einer der schlechtesten Bewertungen. Mögliche Bewerber von außerhalb würden bei einer weiteren Verknappung von Wohnraum also eher davor zurückschrecken z.B. bei einem befristeten Arbeitsplatz oder einer projektorientierten Anstellung die Mühsal der Wohnungssuche in der Region auf sich zu nehmen. Fragt sich wie lange eine Firma überleben kann oder hier bleiben wird, wenn sie nicht die benötigten Fachkräfte bekommen kann.

In beiden Fällen produzieren wir eine „self-fullfilling prophecy“ zum Nachteil unserer Region. Hinzu kommt die negative Außenwirkung, die solche Studien unweigerlich haben. Dabei haben wir bei der Fußballweltmeisterschaft eindrucksvoll erleben dürfen, welche Rolle positives Denken und ein starker Wille spielen können. Wir hätten uns was das Setzen von Schlagzeilen angeht an dieser Stelle etwas mehr Sensibilität von Seiten der Verwaltung gewünscht.

Es gibt einen weiteren Aspekt aus der umfangreichen Vorlage, der meiner Meinung nach besonderes Augenmerk verdient. Das ist die Frage nach den Gemeinden mit Eigenentwicklung. Diese dürfen bisher keine Wanderungsgewinne erhalten, sondern sollen nur für ihre natürliche Entwicklung Flächen ausweisen. Das wäre in Zukunft also nur noch möglich, soweit die sinkende Belegungsdichte oder der steigende Wohnraumbedarf dies erfordert – mit dem Ergebnis, dass die Gemeinde Einwohner verliert.

Wenn wir aber gleichzeitig als wichtige Handlungsmaxime den sparsamen Umgang mit öffentlichen Geldern proklamieren, dann kann es schlichtweg nicht sein, dass in der kleinen Gemeinde z.B. ein Kindergarten oder gar die Grundschule geschlossen werden müssen und im benachbarten Mittel- oder Unterzentrum – das ja Wanderungsgewinne haben darf – für ein neues Wohngebiet ein Kindergarten neugebaut oder eine Grundschule erweitert werden muss.

Ich wiederhole meine Frage von vor zwei Jahren: Dürfen wir in einer mäßig wachsenden Region Bereiche der Schrumpfung schaffen? Nein, das dürfen wir nicht. Der Begriff heißt Eigenentwicklung und nicht Selbsterosion. Also wird genau zu prüfen sein, welche Einwohnerzuwächse wohin geleitet werden. Und welche Gemeinde mit Eigenentwicklung soviel Fläche ausweisen darf, um ihre Einwohnerzahl zu halten – gerade um vorhandene Infrastruktur nicht nach Plan zu zerstören. Dadurch entsteht nicht mehr Verkehr – aber die Größe und Lage manches regionalen Wohnbauschwerpunktes wird zu überprüfen sein.

Große Sympathien hat sich die Vorlage bei uns erworben, als wir auf Seite 19 von den Nachverdichtungspotentialen in der Nähe von schienengebundenem ÖPNV – also den Bahnhöfen - gelesen haben. Wir hatten das seinerzeit unter die Überschrift „S21 regional“ gestellt. Aber das sind ja nur Worte. Wichtig ist, dass das Potential erkannt und genutzt wird und die Verwaltung den Kommunen bei Bedarf zur Seite steht, diese Schätze zu heben. So haben wir zumindest den Vorstoß für eine „Kompetenzstelle Innenentwicklung“, von der wir aus der Zeitung erfahren haben, verstanden. Hier können noch mehr Anstrengungen gemacht werden.

Allerdings darf das gesamte Innenentwicklungspotential nicht überschätzt werden. Nach H. Oettinger gilt ja die Gleichung: gleichbleibende Zahl von Menschen entspricht gleichbleibendem Flächenbedarf, also keine Neuausweisung. Das ist freilich Quark, es gibt ja auch noch so Effekte wie steigenden Wohnraumbedarf, mehr Singlehaushalte u.ä. Aber das Bespiel zeigt, wie schnell man sich als Laie bei diesen Zukunftsprognosen aufs Glatteis führen lassen kann. Ein Beispiel: Wenn in Marbach mit heute ca. 15.500 Einwohner die Belegungsdichte von 2,2 in den nächsten 15 Jahren auf 2,0 sinkt (und sie war vor 15 Jahren noch bei 2,5), bedeutet das einen Flächenbedarf von über 25 ha – nur um den Einwohnerstand halten zu können! Das ist eine Menge Holz. Wenn nicht gerade das ehemalige Kraftwerksgelände in Wohnfläche umgewandelt wird, wüsste ich nicht, wo sich 25 ha in Marbach als Innenentwicklungspotential finden lassen würden. Diese Zahlen muss man sich bei der Diskussion immer wieder vor Augen halten.

Zusammenfassend wertet die SPD-Fraktion die Pestel-Studie weniger als feststehendes Ergebnis, sondern vielmehr als Warnung. Wir dürfen uns mit restriktiven Vorgaben nicht selbst strangulieren, sondern wir wollen die Chancen nutzen, die diese Region und dieser starke Wirtschaftsstandort bieten. Das Credo muss lauten: mit Augenmaß und Optimismus.

Mit längerer Laufzeit des Regionalplans nehmen die Unwägbarkeiten zu. Deshalb bitten wir die Verwaltung nochmal, Vorschläge zu unterbreiten, wie auf Veränderungen, die nicht kalkuliert waren, reagiert werden kann und unser Regionalplan an Flexibilität gewinnt. Gleichzeitig erwarten wir eine Antwort auf die Frage, wie mit den unterschiedlichen Ansätzen zur Bevölkerungsentwicklung an den Regionsgrenzen umgegangen werden soll. Das könnte auch zum Prüfstein für die Metropolregion werden.

Wir können mit den Formulierungen im Beschlussvorschlag leben. Aber wir erwarten von der Verwaltung, den Blick optimistisch in die Zukunft zu richten und bei den Flächenkontingenten davon auszugehen, dass die heutige Einwohnerzahl in der Region durch Zuwanderung gehalten wird

 

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